Mittwoch, 11. März 2020

Faust als Solo in der Volksbühne am Kaulenberg

Huch.

Ruhig ist es hier geworden.

Und ich kann nicht einmal mehr sagen, was mich dazu bewogen hat tatsächlich mal wieder ins Theater zu gehen.

Dafür bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nach dem Februar nirgendwo mehr hingegangen wäre, wenn die Karte nicht schon bezahlt gewesen wäre.

Woran sich gleich das nächste Problem anschloß:

Volksbühne am Kaulenberg.

Wo zur Hölle ist der Kaulenberg?

(Ich wohne hier nur, ich muss nicht Alles wissen. Im Großen und Ganzen: keine zwei Minuten vom Juridkum entfernt. Nicht das die Info beim Finden wirklich hilft.)

Google war bei der Frage nur bedingt eine Hilfe.

Und ich bin an den Abend mit geradezu unhöflich niedrigen Erwartungen heran gegangen.

Nicht mal unbedingt an Faust, aber an den Ort.

Ich hatte mich auf eine ehemalige Kneipe eingestellt: kalt, schlecht geheizt, das Nikotin der letzten 30 Jahre an den Wänden und Stühle aus dem letzten Jahrtausend...

Ja...

Eher nicht so.

Meine innere Vorstellung begleitete mich in einen Durchgang, in ein mit einer Lichterkette ausgeleuchtetes Treppenhaus, vorbei an einer Arztpraxis bis praktisch unters Dach. Und da kollidierte mein hallescher Zynismus mit der Wirklichkeit:

Hier wohnt wer.

Wenn Herr Schütte den Abend eröffnet mit "Herzlich Willkommen in meinem Wohnzimmer" ist das in erster Linie die Feststellung einer Tatsache.

Es gibt einen Tickettresen und Ausschank, ein Sofa und ein paar Reihen Stühle. Für ein minimalistisches Bühnenbild war auch noch Platz.

Und eine Wendeltreppe direkt im Raum und das Wort "Lesebühne" verbergen sehr euphemistisch, dass man keine drei Meter höher endgültig das Bedürfnis hat zu fragen, ob es überhaupt okay ist, dass man die Straßenschuhe angelassen hat.

Gemessen an der Regelmäßigkeit, mit der sich Gäste "Er wohnt hier!" zuraunten, war ich aber nicht der einzige Mensch, bei dem sich das Grundkonzept erst mal kurz setzen musste.

Also ein Getränk und ein Sitzplatz und auf zur nächsten Überraschung:

Faust.

Genauer gesagt: Faust als Solostück.

Sprich: Faust, Mephisto, Gott und Gretchen:  Alle gegeben von Jonas Schütte - in dem Fall Hausherr, Schauspieler und Regisseur in einem.

Und ja, wenn mich nachts um drei jemand weckt, weil er unbedingt die Handlung von Faust wissen muss (etwas, dass man selbst als fertiger Germanist eher selten erlebt), ich hätte es bis "Faust - Mephisto - Pakt - Gretchen - dumm gelaufen" gebracht.

Nach dem ersten Kaffee hätten sich sicher noch Zusatzinformationen angefunden.

Aber Textsicher ist einfach anders.

Insofern kann man so einen Schnelldurchgang durch die Materie durchaus von Zeit zu Zeit mitnehmen - vor allem wenn er so gut durchgespielt ist wie hier.

Und normalerweise würde ich davon ausgehen, dass es sich um meinen germanistischen Nischenhumor handelt, aber neben mir haben noch andere Tränen gelacht - sei es über den hinreißend respektlosen Umgang mit Gretchens Bruder, den Interpretationsspielraum in Fausts Selbstmitleid oder einfach nur die Vorspulfunktion.

Ich habe mich amüsiert wie Bolle. (Wer auch immer das war)

Und ich habe auch tatsächlich eins, zwei Fragen aus dem Abend mitgenommen, deren Beantwortung mehr als nur drei Minuten gedauert hat.

Das ist als Zwischenbilanz schon wieder mehr als ich von dem Abend erwartet habe:

Bildung, Humor. Und noch ein paar Fragen für den Heimweg.

Gleich drei Dinge auf einmal!

Und wahrscheinlich hätte ich selbst dafür diesen Blog nicht wiederbelebt.

Ich habe Faust mittlerweile drei Leuten weiterempfohlen, die erfahrungsgemäß nicht auf mich hören, die sich aber ebenfalls hervorragend bei diesem Stück amüsieren würden.

Eine Empfehlung die ich ernst meine.

Aber wirklich faszinieren tut mich an diesem Stück etwas anderes:

Kontextbefreit könnte ich mich auf nahezu alle Aussagen einigen die im Stück um den Text herum aufgeworfen werden.

Und gleichzeitig beobachte ich seit über einer Woche wie mein innerer Germanist mit Beharrlichkeit brüllt:

Das kann man doch so nicht sagen! Was ist denn das für eine Argumentationskette? Und überhaupt: was ist das für ein Menschenbild? Das kann man doch so nicht stehen lassen!!!!

Der Schönheitsfehler an diesem Problem ist:

Goethe kann ich sein Menschenbild nicht mehr um die Ohren hauen. Der hat sich schon vor einer Weile aus dieser Konversation verabschiedet.

Und was Herrn Schütte angeht... nun, es gibt das Angebot, am Ende des Abends noch ein paar weiterführende Fragen zu stellen. Aber ganz ehrlich: ich hab zu viele.

Und wenn man schon mal ein Theater gefunden hat, dass einem gefällt und das man gerne wieder besuchen möchte, kann es durchaus sinnvoll sein, sich nicht übermäßig unbeliebt zu machen.

In so fern lasse ich meinen inneren Germanisten noch ein wenig weiter brüllen und empfehle "Faust als Solo" entweder zum mitstreiten oder auch mit sich streiten. ;)



Edit:

Stand 23.04.2020: ich habe zu dem Stück mittlerweile fünf - voneinander größtenteils unabhängige - Meinungen. Mal schauen: irgendwann dampft sich das Knirschen im Hirn vielleicht auch auf eine einzige Meinung zusammen.

Stand 12.05.2020: Also gut, ich finde mich damit ab. Das finale Urteil (dank Onlinespielplan noch mal abgeglichen) lautet: Ich verstehe das, ich begreife es halt nur nicht. ;P

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